Mittwoch, 14. Juni 2018 – Tag 10 – Ruhetag Haltwhistle – Zum Hadrianswall
- 17 km von total 17 km
- 3:53:25 Stunden Wanderzeit netto
- 13,50 Minuten pro km Wandertempo netto
- 4:16:36 Stunden Gesamtzeit mit Pausen
- Wechselnd bewölkt mit sonnigen Abschnitten, abends einzelne Schauer, sonst trocken
- Temperatur 10 – 14 Grad Celsius
- Wind bis Nachmittag 46 – 76 km/h (6 – 9 Beaufort) aus SW bis W, später 22 – 37 km/h (4 – 5 Beaufort) aus W
Als ich erwache tobt der Sturm mit Macht. Bis Windstärke neun rüttelte er an den hohen Bäumen. Trotzdem ist der Campingplatz hier unten im Tal des South Tyne beinahe eine Oase der Ruhe. Im Verhältnis gesehen jedenfalls. Radfahren ist heute keine gute Idee. Will mich nicht von der Straße blasen lassen. Oder mit heftigem Gegenwind kämpfen.
Erstmal frühstücke ich gemütlich und überlege was ich den Rest des Tages anstellen kann. Wäsche waschen wäre eine gute Idee. Es gibt auf dem Campingplatz Waschmaschine und Trockner. Sobald die Geräte frei sind ergreife ich die Gelegenheit. Dann noch ein wenig das Fahrzeug überprüfen. Schrauben nachziehen und ähnliches. Alles gut.
Gegen Mittag beruhigt sich der Wind ein wenig. In der Rezeption finde ich ein paar Prospekte von örtlichen Attraktionen. Nun, örtlich ist etwas übertrieben. Die meisten liegen ein ganzes Stück außerhalb und sind zu Fuß in angemessener Zeit nicht zu erreichen. Aber der Hadrianswall ist nahe, nur ein Stück nördlich von Haltwhistle. Knapp acht Kilometer entfernt.
Kurz vor vierzehn Uhr hat sich der Wind soweit beruhigt, dass ich den Ausflug wagen will. Um nicht schon wieder den gleichen Weg in die Stadt zu nehmen, suche ich auf der Karte nach Alternativen. Einen knappen Kilometer flussaufwärts gibt es eine Brücke über den South Tyne. Dann an seinem anderen Ufer einen Weg in die Stadt. Ein kleiner Umweg, aber etwas Abwechselung. Wirklich schön und interessant wie sich später herausstellt.
Nachdem ich die Featherstone Brücke überquert habe, ist der Weg rechts mit einem Gatter versperrt. Gut, das kenne ich schon von meinem Ausflug über die Pferdekoppel in Barnard Castle. Gatter öffnen und gut wieder verschließen. Außer es steht offen, dann offen lassen. Damit man keine freilaufenden Tiere ein- oder aussperrt. Der Weg ist durch ein kleines Schild als öffentlich markiert. In Großbritannien ist fast alles Land in Privateigentum und man darf nicht so einfach durch die Landschaft laufen wie bei uns.
Noch bewege ich mich auf einem geschotterter Fahrweg. Trotzdem teile ich ihn mir gelegentlich mit Vieh. Schafe und Kühe laufen frei herum, obwohl der Weg von beiden Seiten durch Zäune begrenzt ist. Ich werde interessiert, aber gelassen betrachtet während ich vorbeigehe. Zu einer Kuh mit zwei Kälbern halte ich lieber ein wenig Abstand. Ob es ihre eigenen sind? Ähnlich sehen ihr beide nicht.
An einer Farm endet der breite Weg und hinter zwei weiteren Gattern beginnt ein Trampelpfad. Immer noch als öffentlicher Weg ausgewiesen. Er löst sich jedoch immer mehr in Wohlgefallen auf. Als ich ein Wäldchen erreiche verzweigt der Pfad sich in viele kleine einzelne Spuren. Hier haben Tiere den Weg neu angelegt. Zum Glück ist der Wald nicht sehr dicht und ich erkenne schon das nächste Gatter am Waldrand.
Danach ist dann aber endgültig Ende. Eine große grüne Wiese ohne Weg und Pfad. Oben voraus auf dem Hügel eine Hecke. Kein Gatter. Ohne Handy-Empfang kann ich nicht auf einer Karte nachsehen. Also erstmal geradeaus weiter. Irgendwo werde ich schon rauskommen. Am Ende der Wiese dann ein Durchschlupf durch die Hecke. Mit Stacheldrahtzaun. Kein großes Hindernis. Auf der anderen Seite des Hügels sehe ich wieder ein Gatter. Dahinter ein neuer Weg. Und etwas weiter eine große Farm.
Am Gatter kein Schild. Bin ich hier auf einem öffentlichen Weg? Oder auf Privatgelände? Auf der Farm sehe ich einige Leute. Ich lege mir schon mal eine Erklärung zurecht. Hoffe dass sich mir niemand mit einem Schrotgewehr in den Weg stellt. Aber hier ist ja nicht Amerika. Ich grüße freundlich als ich an den Leuten vorbeigehe. Man grüßt kurz zurück. Sonst nichts. Alles gut. Drei Gatter weiter und eine Ehrenrunde später finde ich den Übergang über die Schnellstraße und bin in Haltwhistle.
Das Städtchen ist ein weiterer recht hübscher Markort mit vielen historischen, gemauerten Häusern. Haltwhistle ist einer von zwei Orten die von sich behaupten der geografische Mittelpunkt Großbritanniens zu sein. Größere Bedeutung hat aber wohl die Tatsache, dass es der Ort ist, der dem Hadrianswall am Nächsten liegt. Der gut ausgeschilderte Weg dorthin führt mich quer durch den Ort, bis ich erneut einen kleinen Pfad erreiche, der mich direkt in eine andere Welt führt.
An einer alten, aufgelassenen Ziegelei beginnt das schmale Tal des Haltwhistle Burn. An den Ufern dieses kleinen Baches schlug einst das industrielle Herz des Städtchens. Überall findet man auch heute noch viele Spuren der hier ehemals angesiedelten Schwerindustrie. Auch wenn sich die Natur inzwischen vieles zurückgeholt hat. Oft muss ich sehr genau hinschauen um hier einen Gebäuderest oder dort einen zerfallenen Schornstein im Dickicht zu entdecken.
Schnell wird das liebliche Tal zu einer von Bäumen beschatteten Oase. Die feuchte Kühle des Baches bietet heute einen idealen Lebensraum für Fauna und Flora. Reiher jagen hier nach Fischen und mit etwas Glück kann man Spuren von Ottern entdecken, die hier ein scheues, verstecktes Leben führen.
Weiter dem Bach aufwärts folgend, wird aus dem kleinen Tal eine richtige Schlucht mit mächtigen Sandsteinfelsen zu beiden Seiten. Beeindruckende Steinwände säumen den Pfad links und rechts. Als sich die Schlucht wieder weitet, passiere ich Überreste eines kleinen römischen Forts und einer Kohlemine aus der Römerzeit. Nun bekomme ich auch wieder Gesellschaft von freilaufenden Schafen.
Der Pfad endet an einer größeren Straße. Ich folge ihr ein kurzes Stück während ich links schon die Reste des Hadrianswalls erblicken kann. Eine Herde Schafe nutzt die Straße für einen Umzug von Weide zu Weide, vorwärts getrieben von einem Schäferhund der moderneren Art.
Am Abzweig von der Hauptstraße folge ich nicht dem Weg zum Besucherzentrum, sondern wähle den direkten Pfad zu den Ruinen des Meilenkastells Nummer 42, das sich auf dem Hügel vor mir befindet. Dabei überquere ich zuerst einen Grabenwall und dann die alte Römerstraße. Oben auf der Hügellinie erreiche ich die erstaunlich gut erhaltenen Grundmauern des Hadrianswalls und des Kastells. Der Gedanke dass vor fast zweitausend Jahren die Römer auf diesen Steinen gelaufen sind erweckt in mir ein eigenartiges Gefühl. Wenn man bedenkt wie viele Kriege und Wirren seitdem dieses Land heimgesucht haben, ist es unheimlich beeindruckend wie weit die ehemalige Grenzanlage noch erhalten ist.
Der Wind weht immer noch lebhaft und kühl aus Westen, und so suche ich mir ein geschütztes Plätzchen um mich ein wenig zu stärken. Dann laufe ich ein Stück am Wall entlang, mache Fotos und genieße die Aussicht. Nach Osten erstreckt sich eine weite, grüne Hügellandschaft auf deren Höhenlinie sich der Wall bis zum Horizont entlang zieht. Im Westen befindet sich direkt vor mir der ehemalige Steinbruch Cawfields Lake überragt von dem markanten, steilen Felsen Whin Sill. Dahinter verliert sich der Hadrianswall und ist in der hügeligen Landschaft kaum noch zu erkennen.
Langsam begebe ich mich wieder auf den Rückweg. Noch einmal genieße ich das schöne Tal des Haltwhistle Burn. Es ist schwer zu glauben. Nur gute hundert Jahre sind vergangen seit hier ein schmutziges Industriegebiet lag, wo heute der ruhige Bach durch schattigen Wald fließt. Zwei Wassermühlen dienten dazu Stoffe zu walken, Wolle zu kämmen und diese zu spinnen. Außerdem gab es Steinbrüche, Kalkbrennereien, Holz-, Ziegel- und Kachelfabriken, Kohleminen, eine Kokerei, Kohlegas wurde erzeugt und sogar eine Eisenschmelze war hier angesiedelt. In Anbetracht der massiven Industrialisierung von damals ist es beruhigend zu sehen, wie gut die Natur in der Lage ist sich zu erholen sobald der Mensch sich weitgehend aus ihr zurückzieht.
Am südlichen Ortsrand von Haltwhistle entschließe ich mich an der Straßenbrücke über den South Tyne den kürzeren Weg zu nehmen. Ein Stück an der Straße entlang steht links auf einem Hügel Bellister Castle. Dieses schloßähnliche Landhaus aus dem 19. Jahrhundert steht auf den Überresten eines Gebäudes aus dem 13. Jahrhundert und besitzt eine Turmruine aus dem 14. Jahrhundert. Leider ist von der Straße nicht viel zu sehen und das große Eisentor ist verschlossen.
Kurz darauf zweigt ein Pfad in den Wald ab, der mich über einen Hügel hinunter an den Fluss führt. Einen guten Kilometer später erreiche ich den Campingplatz. Vor meinem Zelt beschließe ich den Abend und ruhe die müden Beine aus. Ein Fußmarsch beansprucht Muskeln, die beim Radfahren weniger aktiv sind und das spüre ich nun. Trotzdem war es ein schöner, interessanter und gut genutzter Ruhetag.