
Dienstag, 5. Juni 2018 – Tag 1 – Kelkheim bis Koblenz
- 140 km von total 140 km
- 7:27:32 Stunden Fahrzeit netto
- 18,8 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit Fahrzeit netto
- 8:52:11 Stunden Gesamtzeit mit Pausen
- Sonnig, wenige Wolken
- Temperatur zwischen 25 und 32 Grad Celsius
- Wind 18 – 22 km/h (3 – 4 Beaufort) wechselnd aus N bis O
Fast drei Wochen sind vergangen seit ich meine Skandinavienreise schon am ersten Tag wegen einer Achillessehnenentzündung abbrechen musste. Das Warten auf Besserung ist zäh, gibt es doch nicht wirklich viel was ich tun kann um die Heilung zu beschleunigen. Gut, ich halte mich knapp zwei Wochen daran kein Rad zu fahren. Dann spüre ich dass ich es wagen kann. Die ersten kurzen Touren sind vielversprechend, aber es gibt auch Rückschläge. Dazu unternehme ich einige Wanderungen. Seltsamerweise bereitet Laufen mir keine Probleme.
Die „tatenlose“ Zeit nutze ich um über Alternativen nachzudenken. Plan A ist mit dem Fahrrad meine Skandinavientour zu fahren. Ziemich schnell entwickelt sich daraus Plan B. Statt mit dem Fahrrad eben mit dem Auto. Rad im Kofferraum und Boot auf dem Dach. Auch nicht schlecht. Aber ich will es irgendwie auch ohne Auto schaffen. Also kommt Plan C ins Spiel. Zu Fuß zum Nordkap. Ich habe sowieso vor in Zukunft irgendwann einmal von Gibraltar zum Nordkap zu laufen. Also warum nicht jetzt gleich die Hälfte. Schließlich liegt der Europäische Fernwanderweg Nr. 1 sozusagen vor meiner Haustür. Und er führt zum Nordkap.
Bei einer Wanderung zum Atzelberg wird mir jedoch schnell klar, dass es mit der mir noch zur Verfügung stehenden Zeit zu einer ziemlichen Rennerei ohne Zeitreserven wird. Dann kommt der Freitagabend im Kanu-Club Kelsterbach, als in einer lockeren Gesprächsrunde bei ein paar Bier, erst Plan D, und auf dem Heimweg Plan E entsteht.
Einige Freunde aus dem Verein verbringen ihren diesjährigen Sommerurlaub in Schottland. Also warum sie nicht besuchen? Mit dem Auto, dem Rad hinten drin und dem Boot oben drauf. Soweit Plan D. In dunkler Nacht auf dem Weg von Kelsterbach nach Kelkheim wird dann Plan E geboren. Ich will mit dem Rad nach Schottland. Es zumindest versuchen. Abbrechen und das Auto nehmen kann ich immer noch wenn die Sehne nicht mitspielt.
Das Wochenende verbringe ich mit weiteren Testfahrten. Alle laufen gut. Nicht perfekt. Aber okay. Und Nachdenken. Welche Route soll ich nehmen? Über Rotterdam und Hull? Oder über Dunkerque und Dover? Erstere würde mich zu früh nach Schottland bringen. Letztere ist reizvoller. Zeitlich sollte es genau passen, Schottland bei Ankunft meiner Freunde vom Kanu-Club zu erreichen. Und ich würde eine alte Rechnung begleichen können. London-Edinburgh-London vom letzten Jahr, als mich Rückenschmerzen zum Abbruch zwangen. Dieses Mal kann ich in die Strecke einsteigen und alles nachholen. Oder zumindest den Hinweg. Später locken mich der Lake District, Wales und Cornwall. Danach zurück auf das Festland bis der Sommer vorbei ist. Flandern, Ardennen, Luxemburg, Elsass, Schweiz, Italien, Österreich, was immer ich schaffe und wohin es mich treibt. Es gibt so viel zu erkunden mit dem Rad.

Nun ist also Dienstag. Wieder werde ich von einer lieben Freundin mit einem großen Lunch-Paket verabschiedet. Der Abschied fällt schwer, aber mich ruft die Ferne. Tolles Klischee, oder? Statt der „Direttissima“ durch den Westerwald Richtung Köln, wähle ich mit Rücksicht auf meine Sehne die etwa 50 Kilomter längere, aber durchweg flache Route entlang von Main und Rhein. Ich habe Koblenz als Tagesziel angepeilt, bin aber bereit schon vorher den Tag zu beenden, sollten Probleme entstehen.
Von Kelkheim folge ich dem Liederbach und wechsele dann nach Hofheim zum Schwarzbach. Immer schön bergab bis zum Main. Es ist schon recht warm und der leichte Schiebewind bringt keine echte Abkühlung. Hinter Flörsheim ist dann Schluss mit lustig. Der Uferweg ist gesperrt und ich werde hoch in die Weinberge gejagt. Ich habe Angst dass meine Sehen nicht mitspielt. Aber sie spielt mit. Zum Glück. In Hochheim bin ich wieder auf Ebene Fluss. Schön flach und schonend.
Kurz hinter der Mainmündung gegenüber von Mainz die erste Pause. Ein schattiges Plätzchen und ich mäste mich mit dem Lunchpaket. Dann geht es über den Rhein. Durch Mainz. Grauenhaft. Was die Stadt mit ihrem Radwegen fabriziert. Konzeptionslos. Zum Teil lebensgefährlich. Die Wege in grauenvollem, unfallträchtigen Zustand. Aber ich kenne das schon und kämpfe mich irgendwie durch. Vielleicht wäre die Schiersteiner Brücke doch die bessere Alternative gewesen.
Ab Budenheim dann Entspannung pur. Gemütliches Rollen hinter dem Rheindeich. Autofrei. Ein Genuss. Bis Bingen. Ich besuche den Punkt an dem die Nahe in den Rhein mündet. Ein perfekter Ort für die zweite Rast. Mit Blick auf das Binger Loch und Mäuseturm. Hier würde es heißen Eulen nach Athen tragen, wenn Herbert Grönemeyer von „mehr Schiffsverkehr“ singt. Der Rhein ist belebt. Rauf und runter.
Als ich in das enge Rheintal hinter Bingen einbiege, bläst mir auf einmal kräftiger Gegenwind auf die Nase. Wo kommt der denn her? Anfangs ist die Strecke noch recht geschützt. Hinter Trechtinghausen dann die Sehne. Auf einmal das altbekannte Ziehen. Ich fluche. Schon wieder das Ende? Wo ist der nächste Campingplatz? Ich trete langsamer, fast ohne Belastung. Der Trailer läuft sowieso hinterher. Schluckt zusammen mit dem Rad jede Bodenwelle klaglos. Eine Viertelstunde später hört die Sehne wieder auf zu klagen. Ich kann mich erneut auf die Burgen links und rechts konzentrieren. Und den Schiffsverkehr.
Immer sitzt mir die Furcht im Nacken dass sich jeden Moment die Sehne wieder bemerkbar macht. Langsam und vorsichtig trete ich weiter. Dann eine schöne Stelle an der ich das Rad bis ans Wassser schieben kann. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Ein erfrischendes Bad ist genau das Richtige. Erst als ich anhalte merke ich, wie heiß es inzwischen geworden ist. Der Gegenwind kühlt angenehm. Hat auch was Gutes. Auch wenn er Kraft kostet. Oft schaffe ich kaum mehr als 16 km/h zu fahren. Aber ich will auch nicht zu stark treten. Der Weg nach Koblenz ist noch weit.
Auf der flussaufwärts gelegenen Seite einer Buhne ist der Rhein flach, kaum Strömung, und das Wasser ist angenehm kühl. Ich will gar nicht wieder raus. Tauche ein paarmal komplett unter. Eine Viertelstunde bleibe ich im Wasser. Dann geht es weiter. Ohne mich abzutrocknen springe ich in die Klamotten. Es dauert nicht lange und ich bin wieder völlig trocken. Aber die Abkühlung hat gut getan. Hat neue Lebensgeister geweckt.
Hinter der Loreley in St. Goar will ich an meinem Stammimbiss Pause machen, aber es rollt gerade so gut. Will den Flow nicht unterbrechen. Ich weiß dass noch einige zähe Streckenteile vor mir liegen. Vor Boppard bläst mir der Wind erbarmungslos entgegen. Kein Schutz durch Bäume. Es zieht sich. Und ich kenne die Strecke. Zum Glück spielt die Achillessehne mit. Alles ist gut.
Manchmal bietet eine Flußkehre ein wenig Schutz vor dem Wind, nur um danach gleich wieder voll zuzuschlagen. Von Boppard bis Koblenz ist es hart. Aber die Beine laufen gut. Keine Müdigkeit. Nur die Hitze spüre ich. Mein Flüssigkeitsbedarf steigt und Nachschub ist rar. Dann die Erlösung. Die Rhenser Quellen. Die Sprudelfirma hat direkt vor dem Firmengebäude einen Brunnen. Glückspendendes Nass. Ich trinke direkt aus dem Brunnen, fülle meine Radflaschen. Noch nie hat Wasser so köstlich geschmeckt.
Dann Koblenz. Ortsdurchfahrten sind umso schlimmer, je größer die Städte sind. Koblenz ist da keine Ausnahme. Ich versuche mich soweit es geht am Rhein zu halten. Aber da liegt ein Hafen dazwischen. Also Umweg. Nervig. Dann das Deutsche Eck. Die Mosel mündet hier in den Rhein. Schulwissen. Der Campingplatz liegt am anderen Moselufer. Insiderwissen.
Eine Brücke noch. Nach 140,1 Kilometern habe ich das Tagesziel erreicht. Jetzt schmerzfrei. Wenn auch erschöpft. Der Platz ist der Lage entsprechend preislich eher oben angelegt. Aber die Anlage ist Top. Ich baue mein Zelt zwischen anderen Radreisenden auf. Wir grüßen uns. Ein Gespräch entsteht leider nicht. Nach einer erfrischenden Dusche besorge ich noch schnell Flüssiges im Netto vor dem Tore. Wasser für morgen. Milch für mein Frühstücksmüsli. Kaltgetränke gibt es nicht. Also noch auf zwei kalte Bier in die Kneipe auf dem Platz.
Um zehn Uhr liege ich im Schlafsack. Oder besser auf ihm. Es ist warm. Es ist hell. Gespräche um mich herum. Ab und zu zieht auf der gegenüberliegenden Rheinseite ein einsamer Güterzug seine Bahn. Egal. Ich schlafe ein. Träume von morgen? Quatsch. Bin zu müde zum träumen. Schlafe einfach nur tief und fest. Lasse mich nur mal ab und zu von einem Güterzug wecken. Oder einem vorbeistampfenden Binnenschiff. Campernächte sind schön. Schön laut.
