
Montag, 11. Juni 2018 – Tag 7 – Pocklington bis Thirsk
- 90 km von total 752 km
- 5:11:24 Stunden Fahrzeit netto
- 17,3 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit Fahrzeit netto
- 6:09:21 Stunden Gesamtzeit mit Pausen
- Leicht bis mäßig bewölkt, trocken
- Temperatur 18 – 21 Grad Celsius
- Wind 14 – 24 km/h (3 – 4 Beaufort) aus NO bis NNO
Eigentlich hatte ich nach dem anstrengenden gestrigen Tag für heute einen Ruhetag vorgesehen. Aber das Wetter ist einfach zu schön. Schon als ich aufwache strahlt die Sonne und schnell wird es warm. Ich fühle mich gut erholt. Neun Stunden Schlaf haben Wunder gewirkt. Trotzdem lasse ich mir Zeit beim frühstücken und packen. Heute sind nur 66 Kilometer geplant. Der Einstieg in die Strecke von London – Edinburgh – London des letzten Jahres. Die nächste Kontrollstelle befand sich damals in Thirsk. Mein Ziel für heute.
In der Streckenplanung vom letzten Jahr finde ich zwei Wege dorthin. Die offizielle Route mit 66 Kilometern und etwa 550 Höhenmetern und eine kürzere Strecke, die letzten Sommer wohl einige gewählt haben. „Nur“ 59 Kilometer, jedoch etwa 300 Höhenmeter weniger. Da das Internet nur schwach ist, gelingt es mir nicht die kurze Route herunterzuladen. Dann also den langen Weg. Experimente wie gestern, als ich mich teilweise von Maps Me routen ließ, will ich nicht nochmal wagen. Auf der Karte sehe ich warum die Originalstrecke viel mehr Höhenmeter hat. Sie führt durch die Howardian Hills. Nun gut. Hügel mag ich eigentlich. Nur nicht mit über 140 Kilo Systemgewicht.
Schnell finde ich den Einstieg in die Strecke. Ich kenne Pocklington noch vom letzten Jahr. Erreiche die Stelle an der ich vor einem Jahr nach York abgebogen bin und denjenigen sehnsüchtig nachgeschaut habe die weitergefahren sind. Dieses Mal fahre ich weiter. Etwas mehr als zehn Kilometer folge ich einer lebhaften, aber nicht zu stark befahrenen Landstraße. Dann kann ich endlich auf eine der schmalen, einsamen englischen Nebenstraßen abbiegen. Ich genieße es, dass ich die Straße fast für mich alleine habe. Es geht durch Felder, Wiesen, Wälder. Immer leicht wellig, aber keine kräftigen Steigungen. Bei Buttercrambe erreiche ich eine Brücke über zwei Arme des Derwent, der über den Fluss Ouse in die Nordsee fließt. Ein Schild warnt, dass sie für lange Fahrzeuge nicht geeignet ist. Bin ich schon ein langes Fahrzeug? In diesem Fall wohl eher nicht.
Nach gut zwanzig Kilometern bei Barton Hill begrüßt mich ein Schild in den Howardian Hills. Und sofort sehe ich was mich erwartet. Erstmal bergauf. Lang. Gute zwei Kilometer. Und viel Verkehr. Das nervt ein wenig und stört den schönen Gesamteindruck der Landschaft. Mein erster Hügel heißt Bulmer Hill und dort steht eine Säule mit goldener Krone. Die 1869 – 1870 erbaute Säule erinnert an George Howard, den 7. Earl of Carlisle, einem britischen Staatsmann, Redner und Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kurzer Fotostopp. Dann geht es schon wieder bergab. Und danach wieder bergauf. Und dann wieder bergab. Und… Ganz deutlich sehe ich es vor mir.
Das Carrmire Gate ist ein schmaler Torbogen der nicht breiter ist als ein zweispuriges Fahrzeug. Die schnurgerade Straße wälzt sich über die Hügel. Viel Arbeit für die Beine. Ab und zu stoppe ich um Fotos zu machen. Gar nicht so einfach bei dem doch recht starken Verkehr. Ausflugsgegend. Und das an einem Montag. Möchte nicht wissen was hier am Wochenende los ist.
In einer Abfahrt überschreite ich mit 40 km/h deutlich die eigentlich für den Anhänger zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Aber er läuft ganz brav und fast unmerklich hinterher. In den Steigungen gleicht es sich dann wieder aus. Mehr als 5 km/h sind einfach nicht drin. So steil geht es hoch. Ruppige, kurze Anstiege. Nur wenige hundert Meter lang, aber immer gute 10% Steigung.
Hinter dem nächsten Torhaus, dem Gate House des Castle Howard, sicher mal prächtig anzusehen, nun aber ein wenig verfallen wird, steht eine weitere Säule. Einfach nur The Obelisk genannt. Erbaut 1714. Die Inschrift ist verwittert, nicht mehr zu entziffern. Hier geht es zum prächtigen Castle Howard, seinen ausgedehnten Gärten mit einem Mausoleum und dem Yorkshire Arboretum. Der Bau des Schlosses begann 1701 und es dauerte über 100 Jahre bis zur endgültigen Fertigstellung.
Gerne hätte ich mir Castle Howard aus der Nähe angesehen, aber das Schloss liegt weit von der Straße entfernt auf einem der Nachbarhügel. Eigentlich möchte ich hier eine Rast machen, finde jedoch keinen guten Platz um mein Gespann abzustellen. Das ist immer das Hauptkriterium für einen Rastplatz. Kann ich irgendwo das Rad mit samt Anhänger sicher abstellen? Und ob ich von dem Platz einigermaßen einfach wieder weg komme. Schatten und vielleicht eine Sitzgelegenheit sind Nebenkriterien.
Leider ist hier noch nicht Schluss mit den Hügeln. Es geht weiter munter auf und ab. Ich bin nun nicht mehr so munter. Schaue mal kurz wie viele Höhenmeter ich schon geschafft habe. Erst etwas die Hälfte. Naja. Dann baut sich auch noch ein Monster vor mir auf. Sicher 15% Steigung. Keine Chance dort hochzufahren. Ich gebe lieber gleich auf. Spare Kräfte. Schieben ist nicht unbedingt einfacher. Und es geht auch in die Beine. Zweihundert Meter lang ist das Biest. Der Schweiß läuft in Strömen als ich endlich oben bin und wieder aufsatteln kann. Gut. Der Punkt, das erste Mal das Gespann schieben zu müssen, ist nun auch abgehakt.
Tendenziell geht es nun bergab. Aber eben nur tendenziell. Es ist immer noch wellig. In Slingsby wieder eine Hauptstraße. Kategorie B. Entspricht in etwa einer Landstraße in Deutschland. Nervt schon. Auch wenn die meisten Autofahrer sehr rücksichtsvoll sind auf der unübersichtlichen, kurvenreichen Strecke. Nach ein paar Kilometern in Hovingham biege ich links in eine ruhige Nebenstraße ab. Ich sehe rechts neben der Straße einen Bach talwärts fließen. Marr’s Beck heißt er. Okay. Das kenne ich schon. Kommt dir ein Bach entgegen, folgt eine Kletterpartie. Bäche kommen in der Regel von oben. Zumindest in hügeligen Landschaften.
Die Steigung hier ist moderater, kaum mehr als fünf Prozent. Aber dafür länger. Ich kurbele ruhig im kleinsten Gang. Will meine Sehne nicht herausfordern. Leider ist es mal wieder nix mit ruhiger Nebenstraße. Nebenstraße schon. Aber nicht ruhig. Später stelle ich fest, dass es eine Umleitungsstrecke ist. Jetzt wundere ich mich aber erstmal über den vielen Schwerverkehr. Riesige Viehtransporter, gewaltige Traktoren mit noch größer dimensionierten Anhängern rauschen und dröhnen an mir vorbei. Welcome to Lorrieland.
Hier finde ich endlich meinen Rastplatz. Eine kurze Stichstraße die in den Wald führt. Mit einem Gatter an das ich mein Fahrrad lehnen kann. Gute vierzig Kilometer und knapp 400 Höhenmeter sind geschafft. Nur noch etwa ein Drittel. Denke ich. Hahaha.
Endlich ist die Umleitungsstrecke zu Ende. Es wird ruhiger auf der Straße. In dem kleinen Örtchen Coxwold arbeite ich mich noch einmal einen ordentlichen Hügel hoch. Eine Frau mit Hund feuert mich an: „I know you’ll make it.“ Ja, natürlich. Was denn sonst? Ich danke ihr trotzdem für die freundliche Aufmunterung.
Thirsk ist nun schon ausgeschildert. Warum vergehen Meilen eigentlich immer viel langsamer als Kilometer? Vierzehn, dreizehn, zwölf… Und woher kommen auf dieser Nebenstraße schon wieder die ganzen Lorries? Sandkipper, Viehtransporter, Tankzüge, das ganze Programm. Lorrieland eben.
Irgendwann erreiche ich Thirsk. Fahre an der Schule vorbei in der sich bei London-Edinburgh-London 2017 die Kontrolle befand. Jetzt den Campingplatz suchen. Warum jetzt erst? Damit ich wieder was lernen kann. Der Campingplatz liegt ein paar Meilen vor der Stadt. In der Richtung aus der ich gekommen bin. Also in Zukunft ein Stück vor der Ortschaft schauen wo ich hin muss. Schon wieder geht es auf einer kleinen Stichstraße bergauf. Zwei, drei Meilen. Zum Glück nicht sehr steil. Ich freue mich schon auf den Platz.
Das letzte Stück dann wieder bergab. Ich denke kurz daran, dass ich morgen früh also zuerst wieder hoch muss. Oder vielleicht heute noch? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Zu Recht. Als ich den Campingplatz erreiche, verkündet schon am Eingang ein großes Schild: „No tents, no overnighters!“ Na toll. Ein Platz nur für Dauercamper. Die Webseite sagt da etwas ganz anderes. Der Mann an der Rezeption meint, es müsste sich um einen anderen Campingplatz handeln. So so. Mit dem gleichen Namen? Aha. Was soll’s. Ich frage ob er einen Platz kennt der Zelte aufnimmt. Glücklicherweise ist er sehr freundlich und hilfsbereit. Er spricht mit ein paar Kollegen und ruft dann einen irgendwo an.
Er hat gute Nachrichten für mich. Okay, ich muss zurück nach Thirsk. Durch den Ort hindurch. Ein Bekannter von ihm hat Platz und will mich aufnehmen. Der Platz ist eigentlich auch nur für Caravans. Leider gibt es in Großbritannien viele Plätze die keine Zelte aufnehmen. Einen Grund dafür werde ich viel später auf der Reise noch selbst kennenlernen. Der Platz liegt hinter einem Pub. Es sei niemand da, aber ich solle mich schon mal auf einen freien Platz auf den Rasen stellen. Alles andere später.
Ich bin skeptisch. Male mir aus, was es wohl für ein Platz sein könnte. Hinter einem Pub. Egal. Erstmal schauen. Notfalls weiterfahren und wild zelten. Irgendwo auf dem Weg zum nächsten Etappenziel. Diesmal nehme ich einen anderen Weg zurück nach Thirsk. Komme dabei an einem weiteren Campingplatz vorbei. Frage nach. Auch hier keine Zelter erwünscht. Nur Dauercamper. Also weiter zum Pub.
Der Weg dorthin ist einfach. Wieder an der Schule vorbei. Dann noch drei Kilometer. Im Ort links ein Tesco. Rechts ein Lidl. Abendessen schon gesichert. Die Straße hat keinen nennenswerten Abzweig. Vorbei an der Pferderennbahn und dem Bahnhof soll ich fahren, dann irgendwann der Pub auf der linken Seite. Dog & Gun heißt der Pub. Hört sich irgendwie nicht besonders einladend an.
Zunächst fahre ich einmal kurz vorbei um sicher zu gehen, dass es auch der richtige Pub ist. Er ist es. Tatsächlich scheint niemand anwesend zu sein. Eine Einfahrt führt hinter den Pub. Ich fahre vorsichtig hinein. Rechne zwar nicht mit einem Gun, aber vielleicht gibt es einen Dog. Erst ein Parkplatz, dann eine Wiese mit etwa zehn Wohnwagen. Kein Hund. Auch hier ist alles ruhig. Viel Auswahl habe ich nicht. Einen freien Stellplatz gibt es. Dort schlage ich mein Lager auf. Fühle mich zwar ein wenig unsicher, aber was soll’s.
Eigentlich möchte ich gleich einkaufen. Aber ich mag nicht wegfahren bevor ich mit dem Besitzer gesprochen habe. Obwohl aus den geplanten 66 Kilometern nun 90 Kilometer geworden sind, ist noch früh und die Supermärkte haben in Großbritannien lange auf. Tesco oft sogar die ganze Nacht.
Als mein Zelt steht und ich eingeräumt habe, kommt der Besitzer. Mit einem großen Hund. Einem großen, freundlichen Hund. Wir unterhalten uns. Ich erzähle ihm meine Geschichte. Er ist beeindruckt. Aber schwer zu verstehen. Yorkshire Dialekt vermute ich. Schulenglisch hilft hier nicht viel weiter. Als ich frage wieviel ich für die Übernachtung bezahlen soll, antwortet er mir nur grinsend: „Are you okay?“ Nachdem ich ihm bestätigt habe, dass es mir gut geht sagt er nur: „If you’re okay, I’m okay!“. Dann verschwindet er mit einem kurzen Gruß.
Jetzt wieder die fast schon gewohnte Routine. Erstmal duschen. Die Sanitäranlagen sind, milde ausgedrückt, etwas rustikal. Aber das Wasser ist schön erfrischend. Der Besitzer hatte extra erwähnt, dass es eine warme Dusche gibt. Danach einkaufen, Abendessen, Bericht schreiben, Überlegungen zum nächsten Tag.
Nebenan im Wohnwagen sind inzwischen Leute eingetroffen. Laden mich freundlich zu einem Bier ein. Ich nehme dankend an. Gespräche sind schwierig. Zumindest verstehen sie mich. Ich bin mir nicht immer so ganz sicher was sie sagen. Ihr Dialekt ist noch ausgeprägter als der des Besitzers. Ein zweites Bier lehne ich dankend ab. Bin schon recht müde. Mein Zelt und der Schlafsack warten. Nebenan wird noch ein wenig weiter gefeiert. Camperleben halt. Trotzdem schlafe ich schnell ein.