
Mittwoch, 13. Juni 2018 – Tag 9 – Barnard Castle bis Haltwhistle
- 76 km von total 901 km
- 5:03:12 Stunden Fahrzeit netto
- 15,2 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit Fahrzeit netto
- 6:07:23 Stunden Gesamtzeit mit Pausen
- Wolkig mit einzelnen Lücken, später bedeckt, trocken
- Temperatur 13 – 15 Grad Celsius
- Wind bis Mittag 3 – 8 Knoten (1 – 3 Beaufort) aus ONO bis OSO, danach 5 – 11 Knoten (2 – 4 Beaufort) aus SW bis WSW
Ich lasse mir wieder Zeit an diesem Morgen. Frühe Starts scheinen nicht mein Ding zu werden. Um zehn Uhr sitze ich erst wieder auf dem Rad. Zielort der nächsten Etappe von London-Edinburgh-London 2017 war Brampton. Einige Kilometer davor, bei dem Städtchen Haltwhistle habe ich einen Campingplatz gefunden. Er gehört auch zum Camping & Caravaning Club. Die freundliche Dame am Empfang hat mich bereits gebucht, sodass ich mir keine Gedanken machen muss ob es dort Platz für mich gibt.
Dadurch wird die Etappe heute etwa fünfzehn Kilometer kürzer. Spielt aber keine Rolle, da ich in der näheren Umgebung von Brampton sowieso keinen Campingplatz gefunden habe. Außerdem erwartet mich heute die Königsetappe. Bis auf 600 Höhenmeter muss ich hinauf. Erst ein bisschen wellig, aber dann satte vierzig Kilometer nur bergauf. Der Rest dann zur Belohnung nur noch runter. Im Prinzip. Oder tendenziell.
Noch einmal durch das schöne Barnard Castle hindurch führt mich mein Weg grob Richtung Nordwesten. Die Straße folgt im Wesentlichen dem Tal des Tees aufwärts. Ein paar moderate Anstiege vor Eggleston und Middleton geben mir schon mal einen Vorgeschmack auf das was mich später erwartet. Mit jedem Kilometer den ich mich voran arbeite, lässt der Verkehr nach. Die Landschaft um mich herum besteht aus Feldern und Wiesen. Leider macht sich die Sonne zunehmend rar. Aber vielleicht hat dies auch etwas Gutes. Es geht schließlich bergauf.
Middleton ist quasi der Einstieg in den Anstieg. Die Passhöhe wird in Radfahrerkreisen als Yad Moss bezeichnet, wohl in Ermangelung eines offiziellen Namens. Yad Moss ist eigentlich ein Skigebiet mit Skilift an den Hängen des Burnhope Seat, eines 747 Meter hohen Gipfels, an dem die Straße direkt vorbeiführt. Wobei die Bezeichnung Gipfel nicht so ganz zutrifft, handelt es sich doch eher um ein Hochplateau. Aber bis dort ist der Weg noch weit.
Der Anstieg ist wirklich moderat und lässt sich gut kurbeln. Ein sogenannter Rollerberg. Selten erreicht die Steigung mal fünf Prozent, meistens sind es um die zwei bis drei Prozent. Hinter dem Örtchen Newbiggin fahre ich ein ganzes Stück durch einen schönen Wald. Es ist angenehm, legt der Seitenwind aus West inzwischen doch ganz gut zu. Gegenwind wäre das Letzte was ich zusätzlich zur Steigung noch bräuchte.
Als ich die Hälfte geschafft habe, endet der Wald. Getreidefelder gibt es hier oben nun keine mehr. Nur noch Wiesen und Weiden. Die Gegend ist ein altes Bergbaugebiet in dem Kohle und Blei abgebaut wurde. Bei Langdon Beck überquere ich einen der zahlreichen Quellbäche des Tees. Die Straße bäumt sich hier kurz auf. Knapp zehn Prozent. Es ist das einziges Mal. Die Landschaft verändert sich zusehends mit jedem Meter Höhe den ich gewinne. Sie wird immer karger, besteht vorwiegend aus Wiesen die mit Tussockgras und Heide bewachsen sind, sowie Torfmooren.
Bald passiere ich die letzten Farmhäuser. Nun bin ich fast ganz alleine in der grün-braunen Landschaft unterwegs über der sich ein grauer, wolkiger Himmel wölbt. Wind treibt die Wolken vor sich hier. Hier oben bläst er recht heftig. Nichts kann ihn hier aufhalten oder bremsen. Kein Baum, kein Busch, kein Strauch. Trotzdem gefällt es mir oben. Irgendwie übt dieser archaische Landstrich einen eigentümlichen Reiz auf mich aus. Ein paar Schafe treiben sich hier herum, aber kaum Autos. Schön.
Dann sehe ich die Passhöhe vor mir. Oder was ich nach den Beschreibungen dafür halte. Etwa einen Kilometer voraus schwenkt die Straße nach Westen und zieht sich dann ungefähr zwei weitere Kilometer am Berghang nach oben. Dort am Ende sollte ich es geschafft haben. Allerdings steht mir nach der Kurve der Wind direkt auf der Nase. Und der ist jetzt wirklich lebhaft. Ich halte an um mir die Windjacke überzuziehen. Das kurze Stück werde ich schon schaffen. Notfalls im Schritttempo.
Und viel schneller wird es dann tatsächlich nicht. Die Fahnen an meinem Anhänger knattern im kräftigen Wind und ich nähere mich nur langsam, ganz langsam der Passhöhe. Aber wie jeder Weg, hat auch dieser einmal ein Ende. Ich erreiche die Passhöhe, oder eher den höchsten Punkt. Denn es geht nicht gleich wieder bergab, sondern ich bleibe noch für knappe zwei Kilometer auf dieser Höhe. Ich überquere die Grenze nach Cumbria, der letzten Grafschaft vor der schottischen Grenze. Zeit für einen kurzen Fotostopp. Kurz Luft holen nach dem Kampf gegen den Wind. Zum Glück führt die Straße jetzt wieder Richtung Norden, sodass der Wind nun erneut von der Seite kommt und ich die lange Abfahrt wenigstens genießen kann.
Schilder warnen vor freilaufenden Schafen. Also Vorsicht in der Abfahrt. Bald wird die Landschaft wieder lebhafter. Es wird grüner, Wiesen und erste Getreidefelder säumen die Straße. Links begleitet mich nun der Fluss Tyne, der hier oben entspringt und bei Newcastle in die Nordsee mündet. In einer steilen Schussfahrt geht hinein in das Städtchen Alston. Mit beiden Händen ziehe ich kräftig an den Bremsen. Um die zehn Prozent beträgt das Gefälle im Ort und das auf Kopfsteinpflaster. Ich bin sehr glücklich dass es nicht nass ist.
Alston ist ein hübsches Städtchen, ein Marktflecken. Viele Steinhäusern aus dem 17. Jahrhundert säumen die Hauptstraße. Bei einem kurzen Stopp um die Windjacke wieder auszuziehen, fragt mich eine Frau besorgt ob ich mit meinem Gefährt die steile Straße hochfahren will. Ich beruhige sie und sage ihr, dass ich dort gerade runter gekommen bin. Sie ist sichtlich erleichtert. Allerdings erschwert ihr starker Dialekt eine weitere Unterhaltung doch sehr. Ich verstehe nur etwas mehr als die Hälfte von dem was sie sagt, kann mir das meiste aber irgendwie zusammenreimen.
Wieder einmal gelingt es mir im Ort falsch abzubiegen. Ich merke es schnell, sehe aber auf meinem Rückweg zur Kreuzung ein Hinweisschild auf einen Bahnradweg. Er führt parallel zur Straße genau in meine Richtung. Immer am Fluss Tyne entlang. Der Bahnradweg wurde jedoch nicht auf einer alten Bahnstrecke angelegt, sondern direkt daneben. Heute ist die South Tynedale Railway nur noch eine Schmalspurbahn für Ausflügler, die auf dem knapp fünf Kilometer langen Streckenteil zwischen Alston und Slaggyford verkehrt. Früher befuhr sie die gesamte Strecke bis Haltwhistle, meinem heutigen Ziel.
Der Radweg beginnt schön, ein wenig uneben, da nicht asphaltiert. Leider hält die Freude nicht lange. Immer häufiger gibt es kurze oder längere Teilstücke mit Gleisbettschotter. Zwar kein Problem für meine breiten Reifen, aber sehr anstrengend für die Handgelenke und ich werde ordentlich durchgeschüttelt. Ich halte Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Stecke jedoch zwischen den Gleisen und dem Fluss fest. Die Straße schlängelt sich unerreichbar in Reichweite auf der anderen Seite der Gleise.
Endlich bietet ein Weidegatter den ersehnten Ausweg. Es führt zwar kein Weg hoch zur Straße, aber ein paar Meter durch eine Weise zu schieben, kann mich nicht aufhalten. Erleichtert atme ich auf als ich wieder glatten Asphalt unter den Reifen habe. Glatt ist auf britischen Straßen allerdings eine relative Bezeichnung. Besser als Gleisbettschotter ist es allemal. Gerne nehme ich auch das wellige Profil der Straße in Kauf. Tendenziell geht es ja bergab, da machen die Wellen im Gelände meistens sogar Spaß.
Kurz vor dem Tagesziel überquere ich den Tyne. Vor dem Aufstieg auf der anderen Seite überprüfe ich nochmal ob ich den richtigen Abzweig gewählt habe. Dieses Mal passt es. Die kleinen Straßen sind nicht gut beschildert. Recht steil arbeite ich mich aus dem engen Flusstal heraus. Dann noch ein Hügel und tatsächlich ein Wegweiser zum Campingplatz.
Mit einer letzten steilen Abfahrt geht es wieder hinunter zum Fluss. Für heute hat das Auf und Ab ein Ende. Mich erwartet ein schöner, sehr gepflegter Platz. Es dauert ein wenig bis ich einziehen kann. Der Herr des Hauses ist nur für das Rasenmähen zuständig wie ich später feststelle. Und das jeden Tag mit vollem Einsatz. Englischer Rasen eben. „Wait for Roma,“ sagt er nur knapp. „She’s around somewhere.“ Ich entspanne mich trotzdem. Schließlich habe ich ja reserviert. Eine Viertelstunde später taucht Roma auf. Die Formalitäten sind schnell erledigt. Spontan verlängere ich meinen Aufenthalt um einen Tag. Nach neun Tagen habe ich mir einen Ruhetag verdient. Und für die Nacht und Morgen ist stürmisches Wetter vorhergesagt. Da ist ein durch hohe Bäume geschützter Zeltplatz besser als auf welligen Straßen gegen den Westwind zu kämpfen.
Zwei Stunden später, nachdem ich mich eingerichtet habe, breche ich nochmal auf. Dieses Mal zu Fuß. In knapp vier Kilometer Entfernung zeigt mir die Karte einen Supermarkt. Nach einem schönen Spaziergang am Tyne entlang erreiche ich eine gute Dreiviertelstunde später in Haltwhistle einen Sainsbury’s. Gut versorgt sitze ich gegen acht Uhr wieder vor meinem Zelt und lasse den Abend gemütlich ausklingen. Die Bäume ringsherum schütteln und biegen sich schon kräftig. Aber hier im Flusstal sind sie groß und stark. Gut geschützt verschlafe ich das stürmische Wetter.