Sonntag, 10. Juni 2018 – Tag 6 – Hull bis Pocklington
- 56 km von total 661 km
- 3:30:45 Stunden Fahrzeit netto
- 16,1 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit Fahrzeit netto
- 4:46:44 Stunden Gesamtzeit mit Pausen
- Morgens wolkig, ab Mittag zunehmend sonnig, trocken
- Temperatur 12 – 22 Grad Celsius
- Wind bis Mittag 3 – 6 km/h (1 Beaufort), wechselnde Richtungen, ab Nachmittag 13 – 15 km/h aus O (3 Beaufort)
Eine lange Nacht. Eine Stunde zusätzlich durch die Zeitumstellung. Gegen 5 Uhr erwache ich das erste Mal in meiner Koje. Das Schiff läuft ruhig. Seegang ist nicht zu spüren. Schnell schlafe ich wieder ein, wache erneut auf, schlafe nochmal ein. Erst gegen halb acht stehe ich auf. Der Magen knurrt. Brauche ein Frühstück. So eine Fähre ist ein teurer Spaß was die Verpflegung betrifft. Ein Sandwich, ein kleines Müsli und ein großer Tee für knapp zwölf Euro. Luxus pur. Nur das Besteck ist nicht vergoldet. Eintrag ins Merkbuch für die nächste längere Fährreise: Verpflegung mitbringen!
Gegen halb neun räume ich die Kabine und gehe zum Fahrzeugdeck. Ankunft laut Fahrplan neun Uhr. Aber das Schiff liegt jetzt schon still. Also erstmal weiter warten. Ich stehe mit vielen anderen Passagieren auf der Treppe vor dem Zugang zu den Fahrzeugen. Auch in Zeebrugge war das Ablegen ein interessantes, zeitaufwändiges Manöver. Die Festmacherleinen werden vom Land auf das Schiff gezogen. Kenne ich eigentlich anders herum. Sechs Leinen vorne, sechs hinten. Schließlich lassen sich die Türen öffnen. Mein Gespann steht immer noch gut vertäut vorne im Bug. Raus geht es aber hinten. Also weiter in Geduld üben.
Irgendwann kommt Bewegung in die Sache. Die Autos vor mir setzen sich in Bewegung und endlich komme ich von dem lauten Gebläse weg vor dem ich genau stehe. Noch sind nicht alle Fahrzeuge unten, aber die freundliche Crew gibt mir Zeichen schon loszufahren. Ich durchquere fahrend den ganzen Schiffsbauch, aber auf der Rampe steige ich lieber ab und schiebe. Sie ist hier viel steiler als in Zeebrugge. Unten auf dem Kai wieder aufsatteln. Mit meinem Gespann bin ich eine Attraktion für die wartenden Fahrzeuge. Aus mehreren Autos und Wohnmobilen zeigt man mir ‚Daumen hoch‘. Eine Frau bittet mich sogar um ein Foto. „Sir! Please smile.“ Warum nicht. Ich lächle in ihre Kamera.
Trotz der Kontrolle in Belgien wird hier bei der Einreise nochmal alles überprüft. Aber für mich geht es schnell und reibungslos. Bei den Autos dauert es immer länger. Als Radreisender bin ich sicher keine Seltenheit, aber wohl auch nicht alltäglich. Auch der Zoll winkt mich freundlich grüßend durch.
An der Hafenausfahrt im ersten Kreisverkehr beginnt die Navigation. Heute nur eine kurze Etappe. Ich will möglichst schnell die Stadt verlassen. Richtung Norden. Nach Pocklington. Dem Ort an dem ich letztes Jahr mit Rückenschmerzen London-Edinburgh-London abbrechen musste. Ein guter Einstiegspunkt um die Route dieses Mal entspannt zu Ende zu fahren. Zumindest bis Edinburgh. Über den Rückweg mache ich mir später Gedanken.
Ich wäre zwar gerne an der imposanten Brücke über den Humber wieder in die Strecke eingestiegen, doch dazu hätte ich quer durch die Stadt fahren müssen. Rückblickend wäre es die bessere Wahl gewesen. Aber wie konnte ich das wissen? Ich nehme an, dass es am Sonntagmorgen in England ruhig ist. Pustekuchen. Der Verkehr ist nicht gerade die Hölle, aber schon recht lebhaft. Als ich am ersten Aldi vorbeikomme, wird mir wieder bewusst dass es hier kein deutsches Ladenschlussgesetz gibt.
Radwege sind vorhanden, aber das war es dann auch schon. Qualität wie daheim. Wurzelaufbrüche, Schlaglöcher, Bordsteinkanten. Heimatgefühl. Auf der Straße mag ich noch nicht fahren. Brauche noch ein wenig Zeit mich daran zu gewöhnen auf der falschen Seite zu fahren. Es dauert etwa eine halbe Stunde bis ich das Gefühl dafür habe, zu welcher Seite ich an einer Kreuzung oder Einmündung zuerst schauen muss. Alles Gewohnheit und Übung. Später lande ich dann trotzdem einmal beim Abbiegen auf der falschen Seite. Zum Glück hat mich niemand gesehen.
Die großen Kreisverkehre sind eine echte Herausforderung. Absteigen und laufend die Fahrbahn zu queren ist der sicherste Weg. Immerhin ist mein Zug um einiges länger und schwerer als ein normales Fahrrad. Kurz mal kräftig in die Pedale treten ist nicht. Irgendwann habe ich es geschafft den inneren Vororten zu entkommen und erreiche die Schlafstädte. Der Verkehr ist immer noch irre.
Im Vorort Dunswell komme ich an einem Schild vorbei: ‚Empfohlene Fahrradroute nach Beverley‘. Mein Navi sagt ich soll die Hauptstraße nehmen. Nix da. Ich vollziehe eine Kehrtwende ohne auf die vielbefahrene Straße zu gelangen. Die kleine Nebenstraße ist Entspannung pur. Viele andere Radler, kaum Autos. Aber nun fehlt die Ablenkung. Ich spüre die Müdigkeit in den Beinen. Seltsame Gedanken beschleichen mich. Ich verdränge sie lieber schnell wieder.
Hinter Beverley bekomme ich eine weitere Alternative angeboten, die ich nach der guten Erfahrung prompt annehme. Aber so langsam beginnen nun die rollenden Hügel. Bergauf schmerzt. An dem Punkt an dem sich die alternative Strecke mit der auf meinem Navi kreuzt, stehe ich mitten auf einer Brücke. Da war und ist keine Straße. Aber schon vor der Brücke gab es einen Wegweiser. Also umdrehen und nachschauen. ‚Rail Trail Beverley to Market Weighton‘. Der Hudson Way Rail Trail. Ein Bahnradweg. Wie der Vulkanradweg. Schön. In diesem Fall leider nicht. Irgendwie kommt mir die Bedeutung des Wortes ‚Trail‘ nicht in den Sinn. Der Trail entpuppt sich als genau das, denn er ist nichts weiter als ein breiterer Fußweg. Reiter benutzen ihn anscheinend auch. Daher ist es eine Rüttelpiste. Mehr als zehn bis zwölf km/h sind nicht drin. Egal. Weiter. Nach dem Drama in Temse versuche ich mich nun mit ‚Niemals umkehren!‘.
Nach guten fünf Kilometer rütteln und schütteln endlich eine Ausstiegsoption. Ein kleines Stück neben dem Trail verläuft eine asphaltierte Straße Richtung Market Weighton. Es geht zwar ständig auf und ab. Die Yorkshire Wolds. Achterbahn, nur ohne Looping. Aber es ist wieder entspannt. Nur Radler begegnen mir. Alle grüßen freundlich.
In Market Weighton weiß mein Navi mal wieder nicht so recht was es will. Und Pocklington ist nicht ausgeschildert. Irgendwie lande ich dann doch auf dem richtigen Weg. Ein Kreisverkehr und ich stehe vor der ersten richtigen Wand. Es geht hinaus aus der Senke des Flüßchens Mill Beck. Zwei Kilometer bergauf. Und es wird warm. Ich fluche, bekomme erneut komische Gedanken. Wie komme ich am besten wieder raus aus dem Mist? Nun kommt auch noch Hunger dazu. Mein Körper zeigt mir deutlich dass er Defizite hat. Ich muss die Nahrungsaufnahme besser organisieren. Ich will nur noch nach Pocklington. Man wird unvernünftig in solchen Situationen.
Im Örtchen Burnby halte ich an einer alten Bushaltestelle die liebevoll hergerichtet ist. Mit vielen Informationen für Radler und Wanderer. Ich mache ein paar Fotos. Soll ich was zu essen aus meiner Tasche holen? Nein. Absolut unvernünftig. Ich bin nur noch auf Pocklington fokussiert. Und wie ich hier rauskomme. Vier Meilen bis Pocklington vermeldet ein Schild. Also weiter.
Wenig später komme ich am Abfallhof der Gegend vorbei. Sonntags geöffnet. Daher ist auf diesem kleinen Sträßchen so viel Verkehr wie am Freitagnachmittag auf dem Frankfurter Kreuz. Gut. Ärgerlich, aber es lenkt ab von den dummen Gedanken. Bis zu den ersten Häusern von Pocklington. Jetzt geht das Spiel erneut los: Wo hat sich der Campingplatz versteckt? Keine Schilder natürlich. Und mein Navi ist wieder überfordert. Ich mache eine Stadtrundfahrt. Erkenne die Stadtmitte wieder. Vom letzten Jahr. Gemischte Gefühle.
Schließlich hilft nur noch Tante Gockel. Sie weiß den Weg. Zwei Kilometer außerhalb der Stadt finde ich den South Lea Campingplatz. Am Empfang eine nette Dame. Ich soll mir einfach einen Platz auf der großen freien Wiese aussuchen. Gleichzeitig empfiehlt sie mir aber auch, mich neben die dort vorhandenen Bänke und den Tisch zu stellen. Eine Superempfehlung! So kann ich zum ersten Mal seit meiner Abreise an einem richtigen Tisch sitzen um mein Essen zuzubereiten und gemütlich zu verspeisen.
Die Sanitäranlagen sind sehr sauber. Nachdem ich geduscht habe, setze ich mich nochmal aufs Rad. Ohne Anhänger. Ich fahre die zwei, drei Kilometer zum Aldi um meine Vorräte aufzufüllen und mein Abendessen zu kaufen. Aldi und Lidl eignen sich besser zum einkaufen. Sie haben große Glasfronten vor denen ich mein Fahrrad gut abstellen und ein wenig im Blick behalten kann. Andere Märkte wie Tesco oder Sainsbury’s sind von außen nicht einsehbar. Daher mag ich mein Fahrrad dort ungern stehen lassen.
Zurück auf dem Campingplatz genieße ich das schöne Wetter und schlage mir den Bauch so richtig voll. Auf dem Bauch schlafen klappt später nicht, so gestopft bin ich. Endlich mal wieder richtig ausgiebig gespeist. Zwei Scheiben Kasseler aus der Pfanne und drei Schüsselns Nudelsuppe mit Griesklößchen. Richtig schön gesättigt, sind die dummen Gedanken auch wieder verschwinden. Also weiter sein, statt nicht sein. Dumme Psyche.
Später als die Sonne sinkt und es im Zelt erträglich wird, schreibe ich noch diesen Bericht. Dann versinke ich in einen tiefen Schlaf. Gegen die Schnellstraße in der Nähe schützen Ohrstopfen.